kmuRUNDSCHAU: Rollenvorbilder im Wandel

Chancen – für sie und ihn. Doch sind sie gleich? Die kmuRUNDSCHAU tritt ins Gespräch mit Nathaly Bachmann.
Gesellschaftlich etablierte Erwartungen an das Verhalten, das Tun und Lassen von Mann und Frau sind in der Schweiz in Bewegung. Ein erster Schritt in Richtung Gleichheit, Chancengerechtigkeit und Freiheit. Doch wie liberal ist die Schweiz wirklich? Wo gibt es Aufholbedarf? Und wie gelingt der Dialog auf Augenhöhe? Ein spannendes Interview über das Aufbrechen von Strukturen und das Verändern von Einstellungen.
Formale Gleichheit zwischen Frauen und Männern ist in der Schweiz seit einigen Jahrzehnten vorhanden. Mädchen und Frauen spüren aber immer noch die gläsernen Decken, die schwer zu durchstossen sind. Ist das Glas in Ihren Augen halb leer oder halb voll?
Das Glas ist halb voll, davon bin ich überzeugt. Gerade auf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebene – auch in der Politik – sind die Rolle der Frau und ihre Wahrnehmung in der Schweiz im Wandel. Es ist ganz entscheidend, dass wir hier aktiv anknüpfen – und zwar jetzt. Denn wollen wir eben diesen Wandel vorantreiben, müssen Erwartungen an das vermeintlich typische Verhalten von Mann und Frau aufgebrochen werden. Die Veränderungen müssen auch greifbar werden. Rollenvorbilder, die gelebt werden, sind hierbei ein wichtiger Treiber. So sieht man zum Beispiel mehr und mehr Männer, die in Vollzeit oder Teilzeit zu Hause bleiben.
Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Wenn eine Frau mit Kind 100 Prozent arbeitet, ist die Reaktion oft: «Was, so viel?» Aber wenn ein Mann wegen des Kindes 80 Prozent arbeitet, lautet die Frage voller Erstaunen: «Was, so wenig?» Diese traditionellen Denkfiguren bekommen zunehmend Risse, ich spüre einen Wandel und genau da sind wir auf einem guten Weg.
Wir sollten den Fortschritt, aber auch die weiterhin bestehenden Stolpersteine klarer benennen. Die Generation Ihrer Mutter konnte seit 1973 wählen gehen. Sie musste in der Schule nicht in die «Handsgi-Gruppe», sondern konnte auch «Werken» wählen. Heute kann ein Mädchen Fussball im Verein spielen. Gleichzeitig verdienen Frauen im gleichen Job und mit gleicher Qualifikation immer noch viel weniger. Sie können sicher noch einige Beispiele für Fort- und Rückschritte skizzieren.
In der Tat haben wir schon viel erreicht: Wir haben gesetzliche Rahmenbedingungen, die sich parallel zur gesellschaftlichen Emanzipation über die Jahre zum Positiven verändert haben. Zudem ist der Frauenanteil im Parlament stark gewachsen. Und wir haben drei Frauen im Bundesrat.
Gleichzeitig ist aber Stagnation, gar Rückschritt zu beobachten. Denn betrachten wir die Karrierelaufbahnen von Frauen, die Kinder haben, eröffnen sich uns grosse Lücken – und zwar genau dann, sobald Familienzuwachs kommt. Das ist aber nicht individuellem Verhalten geschuldet, sondern liegt an etablierten Vorstellungen in unserer Arbeitswelt. Von uns wird erwartet, dass wir in unserer ganzen Karrierelaufbahn durchgehend 100 Prozent anwesend sind, uns bloss keine langen Unterbrechungen leisten und immer direkt weiterarbeiten. An dieser Stelle haben wir noch massiven Aufholbedarf. Darum braucht es hier, bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, definitiv noch viel Arbeit. Ebenso braucht es – wenn man Kinder und Beruf gleichzeitig und gleichwertig ausfüllen will – eine Partnerschaft und ein Umfeld, in denen Verständnis entgegengebracht wird und der Dialog auf Augenhöhe gelingt.
Sie sprachen vorhin von Rollenvorbildern. Es braucht ohne Frage für jede Generation Vorbilder. Welche waren dies für Sie und welche sind das heute für eine junge Start-up-Frau?
Zugegeben: Frauen zu finden, die für mich ein Vorbild verkörpern, fiel mir früher nicht leicht. Das sind Frauen, die Kinder haben und auch im Beruf vorankommen. Es gab damals wie heute viele erfolgreiche Frauen, allerdings ohne Kinder. Das bestätigt sich auch bei einem Blick in den aktuellen Bundesrat. Wir haben – und das ist wie erwähnt ein grosser Fortschritt – drei erfolgreiche Frauen im Bundesrat. Alle drei Frauen haben jedoch keine Kinder. Da fehlen also noch die Vorbilder.
Wichtig ist, dass Vorbilder greifbar sind. Für die heutige Generation können Vorbilder Personen sein wie zum Beispiel Melanie Winiger oder die Slam-Poetin Hazel Brugger. Beide nehmen auf unterschiedliche Weise kein Blatt vor den Mund und zeugen von starken Persönlichkeiten. Oder nehmen wir die Unternehmerin Sandra Pinto, Gründerin des Modelabels Lamarel. Sie verkörpert Reduktion und Fokus auf das Wichtige. Der Trend heute ist: Es geht nicht mehr nur darum, wie Vorbilder performen oder die ihnen zugeschriebenen Rollen ausfüllen, sondern vielmehr, ob sie etwas Nachhaltiges mit gesellschaftlichem Impact realisieren.
Es gibt immer noch die klassischen Frauen- und Männerberufe. Wie bekommen wir mehr Frauen in die ICT-Branche?
Dies ist eine wichtige und zugleich schwierige Frage. Mit ESSENCE RELATIONS begleiten wir Führungskräfte, die sich sehr stark für Mädchen in den ICT-Berufen einsetzen. Wir merken, hier findet ein Umdenken statt. Es gibt bereits diverse Ansätze, die die Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik für Frauen attraktiver gestalten. Dennoch ist der Frauenanteil in MINT-Berufen sehr gering. Es muss uns gelingen, Frauen für diese Berufe zu begeistern.
Hier gilt es, bereits in den Primarschulen oder im Kindergarten anzusetzen. Ein erster Schritt kann sein, Informatik als Pflichtfach einzuführen. Eine weitere mögliche Massnahme wäre, die Ausbildungs- und Berufsbezeichnungen zu reformieren. Die heute sehr technischen Begriffe beschreiben oft nicht, was der Beruf an sich beinhaltet und erfordert. Die Bezeichnungen sind stark auf eine männliche Zielgruppe ausgerichtet und schrecken Frauen ab. Dabei haben ICT-Berufe eigentlich sehr viel mit typisch weiblichen Kompetenzen zu tun: mit Sprache, Vermittlung und Kundennähe. Sie bieten auch kreativen und gestalterischen Raum.
Stehen Frauen untereinander eher in Konkurrenz als Männer?
Auf jeden Fall sollten wir uns auch hier von Stereotypen fernhalten. Viele Männer sind untereinander ebenfalls im Wettbewerb. Vielleicht nehmen sie diesen sportlicher oder gehen ihn gelassener an. Doch schauen wir in das Segment des Leistungssports: Die Schweizer Curlerinnen haben erst kürzlich die Weltmeisterschaft gewonnen – und das zum zweiten Mal. Das zeigt: Frauen können durchaus sehr gut zusammenarbeiten und als Team funktionieren. Der Wettbewerb, die Konkurrenz und der Umgang damit sind doch stark abhängig vom Umfeld.
Und wie funktioniert das in Ihrem eigenen Unternehmen? Bei Ihnen sehe ich nur Frauen. Ist das Zufall?
Das ist absoluter Zufall. Vor meinem Start ins Unternehmertum vor acht Jahren arbeitete ich meist in reinen Männer-Teams und auch viele unserer Kunden sind Männer. Bei offenen Positionen sind wir genauso offen dafür, einen Mann einzustellen, und führen meist auch Gespräche mit männlichen Kandidaten. Entscheidend sind für uns die individuelle Leistung und die Leistungsbereitschaft. Schliesslich entscheidet der beste Match. Für uns sind Werte wie Freiheit, Authentizität, Verlässlichkeit und Neugier wichtig.
Aktuell sind wir bezüglich der Geschlechter vielleicht nicht diversifiziert unterwegs, dafür zeichnet uns unsere Generationenvielfalt von Mitte zwanzig bis Mitte fünfzig aus. Was uns stark macht, ist unsere sehr ausgeprägte Diskussionskultur. Wir haben viele Meetings, wir beleuchten uns immer wieder selbst. Jede Einzelne ist sehr leistungsbereit und zeigt Sportsgeist. Jede kann sich richtig einbringen und jede Perspektive wird respektiert.
Was zeichnet in Zeiten der Pandemie eine Führungspersönlichkeit aus?
Die Krise hat uns gezeigt, dass wir mit Schönwetterkapitänen nicht weiterkommen, das geht nicht mehr. Eine Krise kann nur gut gemeistert werden, wenn auch vorher schon gut geführt wurde. Das ist entscheidend. Eine gute Führungspersönlichkeit zeichnet sich durch Empathie aus, sie will selbst auch immer wieder lernen und hört anderen zu.
Eine gute Führungspersönlichkeit muss Herausforderungen als Chancen sehen, ihre Mitarbeitenden befähigen, authentisch und vor allem ständig kommunizieren – gerade in unserer heutigen vernetzten Welt. Und was wir in einer Krisensituation auch sehen können, ist, dass einfach kollaborativ vorgegangen werden muss, damit alle engagiert bleiben.
Kommen wir zu einer Studie, an der Sie beteiligt waren. Sie trägt den Titel «Chancenbarometer». Wie lautet die Kernaussage der aktuellen Ergebnisse?
Chancenorientiertes Denken konzentriert sich auf Lösungen statt auf das Problem, es sucht Wege und keine Schuldigen, es motiviert und fordert zum Handeln auf. In unserer Wohlstandsgesellschaft ist man schnell dazu verleitet, sich auf Sorgen zu fokussieren und auf dem Status quo zu verharren. Viele Bürgerinnen und Bürger verknüpfen mit grossen Herausforderungen aber auch noch grössere Chancen. Chancenorientiertes Denken aktiviert und fördert dabei die Eigeninitiative. Das Chancenbarometer ist eine Aufforderung an alle politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, diese Energie zu nutzen und mutig nach vorne gerichtet zu gestalten. Denn chancenorientiertes Denken erleichtert die konstruktiven Debatten über politische Lager hinweg, mit dem Ziel, Lösungen zu erarbeiten und Fortschritt zu schaffen – das vermittelt das Chancenbarometer.
Unsere Publikation vom Herbst 2020 hebt hervor, dass die Bürgerinnen und Bürger Herausforderungen wie den Klimawandel wahrnehmen, darin aber auch Chancen für eine positive Veränderung sehen. Viele möchten sich zudem politisch engagieren und mitgestalten. Sie schätzen die Partizipationsmöglichkeiten der direkten Demokratie, aber nicht alle erleben diese als politisch wirksam. Und auch wenn nicht immer jede Erwartung erfüllt wird, haben die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in die politischen Institutionen in der Schweiz.
Die Sonderpublikation vom Frühling 2021 widmete sich dann spezifisch den Schweizerinnen. Sie zeigt auf, dass es bedeutend mehr Frauen als Männer sind, die sehr grosse Chancen für politische Gestaltung sehen. Man kann sagen: Schweizerinnen sind im Grunde Optimistinnen, denn sie erkennen sowohl den Handlungsbedarf als auch das Potenzial für Wandel selbst in kontroversen Fragen. Diese Frauen tragen ihre politischen Ansichten oft auch direkt nach aussen. Was bei der Umfrage erstaunt, ist, dass Frauen ihre politische Wirksamkeit noch immer unterschätzen. Und genau deshalb rufe ich dazu auf: Frauen, nutzt eure Gestaltungskraft. Nutzt eure Kreativität. Und beweist eure Wirkung.
Sie sind einem liberalen Weltbild verpflichtet. Gibt es aber nicht auch Strukturen, gerade männlich dominierte Strukturen, die nicht individuell, sondern schlicht staatlich verändert werden müssen?
Hier sprechen wir die Chancengerechtigkeit an. Es ist zentral, dass jene Mitglieder der Gesellschaft gefördert werden, die nicht von Grund auf dieselben Chancen haben wie andere. Es soll in der Schweiz jede und jeder die Möglichkeit haben, eine gute Ausbildung zu geniessen, und auch die soziale Mobilität muss gewährleistet sein. Aus diesem Grund braucht es an diesen Stellen eine spezielle Lösung, ein Mitdenken der Gesellschaft, zum Beispiel die Förderung von Frauen in Führungspositionen.
Oder aber auch, dass Männer akzeptiert werden, die zu Hause sind. Die Institutionen müssen Rahmenbedingungen für diese Chancengerechtigkeit setzen. Ich glaube aber auch, dass Verantwortung für sich selbst die Wurzel aller Verantwortung ist. Soll Wachstum nachhaltig zu Wohlstand führen, fängt auch dies beim Verantwortlichen selbst an. Voraussetzung ist, dass die Eigenverantwortung und die individuelle Gestaltungsfreiheit in der Schweiz erhalten bleiben.
Und wie kann der Liberalismus in der Schweiz wieder Fahrt aufnehmen?
In der Schweiz geniesst Wachstumskritik hohe Aufmerksamkeit und Ideen für eine wachstumslose Gesellschaft finden hier seit einiger Zeit grossen Zuspruch. Der Liberalismus entstand aus dem Glauben, dass die Welt nicht sein muss, wie sie ist, dass es Alternativen gibt. Eben darum soll sich in meinen Augen die neue Wachstumsdebatte drehen. Wie wollen wir leben, welche Werte im Wachstum sind entscheidend?
Für mich ist der offene Umgang, die ehrliche Debatte rund um Wachstum für unseren Wohlstand in der Zukunft und gerade für die nächste Generation zentral. Und genau dieser Weitblick fehlt mir grundlegend. Wichtig ist, dass wir jetzt wieder näher am Menschen sind, dass man wieder emotionaler kommuniziert, einander zuhört und dass man Lösungen anbietet, die parteiübergreifend funktionieren. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir als Gemeinschaft lösungsorientiert arbeiten müssen. Und trotzdem muss man insbesondere auch nach einer Krise wie der COVID-19-Pandemie das System erneut in Frage stellen können und schauen, ob wir unsere Rechte als Bürgerinnen und Bürger zurückhaben. Es gilt, den Liberalismus in der Schweiz neu zu evaluieren.
Was kann die Initiative StrategieDialog21 als Thinktank dazu beitragen, damit Innovationen in der Schweiz geschlechterübergreifend vorankommen?
Der StrategieDialog21 eröffnet als Denkfabrik neue Möglichkeiten für Debatten, Dialoge und Netzwerke. Die Stiftung setzt sich gesellschafts- und parteiübergreifend für eine offene, innovative, mutige und freiheitliche Schweiz ein. Durch ehrlichen und offenen Dialog vermittelt der StrategieDialog21 neue Impulse quer durch die Gesellschaft in verschiedenen Bereichen und schafft einen Austausch zwischen Kultur, Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Die Umsetzung zeigt sich einerseits mit dem Chancenbarometer, das lösungsorientiertes Denken fördert und nach vorne schaut. Die Initiative bietet aber auch Ideenwettbewerbe wie das Wunsch-Schloss und 5vor12, mit welchen wir bei Jung und Alt wieder Freude an der politischen Beteiligung wecken wollen. Wir zeigen auf, dass jede und jeder ein «Change Maker» sein kann. An diesen Events verknüpfen wir National- und Ständeräte mit Personen, mit Ideen, mit Lösungen und Innovationen. Der StrategieDialog21 ermöglicht so einen Dialog zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Für den StrategieDialog21 arbeiten wir mit neuartigen Kanälen, mit Rollenvorbildern, mit Denkern und Machern. Wir versuchen, alle Alternativen aufzuzeigen. Das ist der Sinn des Liberalismus: Dinge infrage stellen, sich weiterentwickeln und mit Widersprüchen umgehen. Das ist ähnlich wie in einer guten Partnerschaft: Wenn beide gleichberechtigt sind, gibt es einen Dialog mit zwei unterschiedlichen Sichtweisen, die einander aber auch Raum geben und gemeinsames Fortschreiten ermöglichen.