Frauen, traut euch!

2019 – und noch immer sind Frauen in Verwaltungsräten, an Firmenspitzen oder in politischen Top-Ämtern eher Ausnahme als Regel. Mittlerweile gibt es zwar zahlreiche Lösungen, um dem entgegenzuwirken. Aber in der Umsetzung hapert es. Warum ist das so?
Wir sprachen mit Michèle Etienne (Partnerin Innopool AG für Führungskompetenz im Gesundheitswesen) zu den drängendsten Fragen hinsichtlich Diversity.
ESSENCE RELATIONS: Wo machen Führungsfrauen den Unterschied und beeinflussen den Erfolg des Unternehmens massgeblich?
Michèle Etienne: Frauen bringen andere Erfahrungshintergründe, Sichtweisen und Führungsstile in ein Gremium ein, und sie wägen Risiken vorsichtiger ab. Dies führt nicht nur zu einer besseren Diskussionskultur und ausgewogeneren Entscheiden, sondern erhöht erwiesenermassen auch die Profitabilität: Laut einer McKinsey-Studie sind SMI-Unternehmen mit mindestens drei Frauen im Management deutlich profitabler. Die Eigenkapitalrendite ist in diesen Unternehmen um 10 Prozent höher als der Branchendurchschnitt, die Gewinnmarge sogar um 48 Prozent. Frauen sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor von Unternehmen; genau so gilt es aber auch auf eine gute Durchmischung betreffend andere Diversitätsdimensionen wie Alter, Herkunft oder Fachkenntnisse zu achten.
Warum sind Frauen in Spitzenpositionen noch immer eine Ausnahme?
Die Gründe für diese Untervertretung sind vielfältig. Man hört immer wieder die Aussage, dass es zu wenige geeignete Frauen für Spitzenpositionen gebe; zumindest für die strategischen Funktionen ist dies aber schlichtweg falsch. Das Problem ist viel mehr, dass die Frauen (noch) zu wenig sichtbar sind – auch weil sie sich zu wenig aktiv vermarkten. Jedem Entscheidungsträger kommen bei einer Vakanz zahlreiche männliche Kandidaten in den Sinn. Hingegen ist nur eine Handvoll weiblicher Kandidatinnen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Wenn diese dann bei einer Anfrage keine Valenzen mehr haben, kann der Eindruck entstehen, dass Frauen kein Interesse an Führungspositionen haben. Sicher liegt es auch an den Frauen, dies aktiv zu ändern, indem sie Gelegenheiten für einen beruflichen Aufstieg auch aktiv angehen und Chancen packen. Nicht zuletzt bin ich der Meinung, dass Frauen sich gegenseitig noch mehr unterstützen können. Hier erlebe ich teilweise schon, dass Frauen, welche es bis an die Spitze geschafft haben, in erster Linie für sich schauen. Anders stellt sich die Situation bei operativen Führungsfunktionen dar. Dort haben wir in der Tat vielerorts noch zu wenig geeignete Kandidatinnen. Dies auch weil viele Frauen auf dem Weg nach oben die Karriereleiter verlassen, Teilzeit arbeiten, um- oder ganz aussteigen.
Was halten Sie von einer Frauenquote?
Ich setze mich für eine «Quote im Prozess» ein, also einen hohen Frauenanteil auf den Kandidatenlisten. Dies sorgt dafür, dass geschlechterspezifische Unterschiede in der Leistungsbeurteilung in den Hintergrund rücken und Frauen eine fairere Chance im Rekrutierungsprozess erhalten.
Welche Erfolgsfaktoren gibt es für Frauen in Führungspositionen?
Wenn die Frauen einmal in einer Führungsposition angelangt sind, unterscheiden sich die Erfolgsfaktoren meiner Meinung nicht wesentlich als diejenigen für Männer. Es geht unabhängig des Geschlechts darum, eine überdurchschnittliche Leistung zu erbringen, die relevanten Anspruchsgruppen ins Boot zu holen und aktiv zu Netzwerken. Ich habe jedoch auch den Eindruck, dass Frauen kritischer «auf die Finger geschaut» wird und sie eine noch bessere Leistung erbringen müssen, um ihre Kritiker zu überzeugen. Von Vorschusslorbeeren können sie selten profitieren. Eine gewisse Resilienz und der Glaube an sich selbst sind da zwingend.
Was ist Ihr wichtigster Tipp an die Frauen?
Wer keine Freude hat, an dem was er tut, wird sich über kurz oder lang die Anstrengungen nicht zumuten wollen. Berufliches Vorankommen ist immer auch ein Wettbewerb, und dieser nimmt mit zunehmender Karrierestufe zu, weil weniger Positionen zur Verfügung stehen. Diese Passion vorausgesetzt ist aus meiner Sicht weiter zentral, dass Frauen ihre Karriereziele gegenüber Entscheidungsträgern und Multiplikatoren kommunizieren, ja sogar einfordern. Dies erhöht die eigene Visibilität und die Chance, dass bei einem nächsten Rekrutierungsprozess an einem gedacht wird. Weiter sollten Frauen vermehrt den Mut haben, sich auch in einen Bewerbungsprozess zu begeben, wenn das Anforderungsprofil nicht zu 100% auf sie zutrifft und sich mehr zutrauen. Wie früher bereits erwähnt, würde ich mir zudem wünschen, dass sich Frauen gegenseitig noch mehr unterstützen und sich bei einer Vakanz auch portieren.
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